Selbstverantwortung als Leitbild

11.11.2019 - Bei einer Hospitation lernten 25 hessische Teilnehmende von „LiGa – Lernen im Ganztag“ die Alemannenschule in Wutöschingen kennen. Hier können die Lernenden ihr Lernsetting selbst gestalten.

© DKJS / J. Tramm

Die Alemannenschule in Wutöschingen ist diesjährige Preisträgerin des Deutschen Schulpreises. Im Oktober machten sich rund 25 Teilnehmende von „LiGa – Lernen im Ganztag“ aus Hessen auf den Weg, um sich vom pädagogischen, räumlichen und digitalen Konzept der Schule inspirieren zu lassen. Kooperationspartner der Hospitationsreise war das Hessische Kultusministerium, das maßgeblich daran beteiligt war, dass die Reise stattfinden konnte.

Eigentlich hätte es die Alemannenschule 2019 gar nicht mehr geben sollen. Eine Studie hatte noch zehn Jahre zuvor die Schließung im Jahr 2017 prognostiziert. Doch stattdessen machte sich die Schule gemeinsam mit der Kommune auf den Weg, die Alemannenschule neu aufzustellen. In den letzten acht Jahren ist aus der Grund- und Werkrealschule Wutöschingen eine Gemeinschaftsschule entstanden.

Niemand wird zum Lernen gezwungen

Als wichtigste Grundlage für den Erfolg der Schule nennt Stefan Ruppaner, Schulleiter der Alemannenschule, die Haltung: „Wenn eine Schule es schafft, die Haltung zu ändern, dann kommt der Erfolg von allein“. Aus diesem Grund setzten sie sich am Anfang des Transformationsprozesses intensiv mit einem passenden Leitbild auseinander. Denn, so Stefan Ruppaner: „Das Leitbild bestimmt die Haltung.“ Getragen wird das Leitbild von einem Fundament aus Anstand, Selbstverantwortung und Willen. Wie an der Schule Selbstverantwortung verstanden wird, beschreibt er anhand einer Metapher: „Unser Job als Lernbegleiter ist es, den Tisch zu decken. Es muss dazu einladen, zu essen. Wir als Profis können erklären, wie was schmeckt, und bieten es an. Essen muss jeder selbst.“ Und das selbsterklärte Ziel ist es, dass alle Lernpartner, wie die Schülerinnen und Schüler genannt werden, mit Freude „essen“. Alle Lernenden haben deshalb die Aufgabe, ihr Lernsetting selbst zu gestalten. Dabei wird niemand zum Lernen gezwungen, da das Lernen als Belohnung verstanden wird. Deshalb gibt es weder Strafarbeiten noch Nachsitzen. Dennoch ist es wichtig, dass sich alle an die „Tischregeln“ halten.

Konzentrierte Arbeitsatmosphäre im Lernatelier

Als die Exkursionsgruppe das Lernatelier betritt, schiebt Jan, Lernpartner an der Alemannenschule, gerade seinen Magneten auf der WiWo-Tafel (Wer ist wo?) von „Lernatelier“ auf „Gelingensnachweis“. Er hat sich so lange mit einem Thema beschäftigt, dass er jetzt das Gefühl hat, dass er den dazugehörigen Test bestehen kann. Vorbereitet hat er sich an seinem persönlichen Arbeitsplatz im Lernatelier. Hier, im weißen Haus, haben 250 Lernpartnerinnen und -partner zwischen Klassenstufe fünf und acht ihre Arbeitsplätze. Mittendrin: die Arbeitsplätze der Lernbegleiter, wie die Lehrkräfte sich an der Alemannenschule Wutöschingen nennen. Anstelle eines Platzes im Lehrerzimmer sitzen auch sie im Lernatelier. So ist immer ein Lernbegleiter verfügbar, wenn die Lernpartner Fragen haben.

Schwer beeindruckt sind die Teilnehmenden der Exkursion von der konzentrierten Arbeitsatmosphäre im Lernatelier. „Bitte unterhalten Sie sich im Flüsterton, damit die Kinder nicht beim Lernen gestört werden“, ermahnt Mirko Siegloch, Lernbegleiter an der Alemannenschule, die Teilnehmenden. „Wenn Sie sich unterhalten wollen oder eine Frage haben, gibt es Rückzugsräume, in denen wir uns unterhalten können.“

In der Zwischenzeit hat Jan seinen Gelingensnachweis erbracht und legt ihn seiner Lernbegleiterin zur Korrektur vor. Diese kontrolliert den Test und trägt das Ergebnis in die Digitale Lernumgebung (DiLer) ein. Hat Jan den Test bestanden, wächst sein Fortschrittsbalken im entsprechenden Fach ein kleines bisschen an. So können er, seine Eltern und die Lernbegleiter jederzeit sehen, wie es um seinen Lernstand bestellt ist.

Lehr- und Lernmaterial im Materialnetzwerk

„DiLer hat bei uns vieles ersetzt“, erklärt Mirko Sigloch. „Es ist unser Schultagebuch, Lernplattform, Kommunikationsmedium, Kalender und vieles mehr. In DiLer liegen die Kompetenzraster und wir tragen dort ein, wenn ein Lernpartner fehlt.“ Entwickelt wurde DiLer als Open-Source-Software an der Alemannenschule. Mittlerweile findet es an vielen Schulen in Baden-Württemberg, bundesweit und in anderen europäischen Ländern Anwendung. Für die Schulen ist die Software kostenlos. In einer Partner Edition für 8 Euro pro Jahr und Schüler sind zusätzliche Funktionen wie Videotelefonie, eine Cloud und direkter Support durch das DiLer-Team enthalten.

Eng verknüpft ist die Software mit dem Materialnetzwerk. In einem Verbund von knapp 50 Schulen hat die Alemannenschule in den letzten Jahren einen großen Fundus an Lehr- und Lernmaterialien entwickelt. „Wir wären ja bereit gewesen, einfach das Geld für gute Materialien zu bezahlen. Aber es gab sie einfach nicht und gibt sie in unseren Augen nach wie vor nicht“, erklärt Valentin Helling. Der Lernbegleiter ist Mitbegründer des Materialnetzwerks und einer der Vorstände der neu gegründeten Genossenschaft, in die das Materialnetzwerk aufgegangen ist. Ziel der Genossenschaft ist es, das Materialnetzwerk auf eigene Beine zu stellen. Die Materialien sind als Open Education Ressource für alle Nutzerinnen und Nutzer kostenlos. Ein Editor, um die Materialien zu verändern und zu bearbeiten, ist in einer kostenpflichtigen Lizenz enthalten. Valentin Helling sagt weiter: „Wie viel Zeit verbringen Lehrkräfte damit, mühsam Arbeitsblätter in Word und anderen Programmen zu erstellen? Unser Editor hat keinen anderen Zweck, als genau diese Arbeit zu erleichtern. Er ist dafür optimiert, jede Art von Lehr- und Lernmaterial zu erstellen.“ Grundlage für die Materialien ist immer der Bildungsplan. Basierend auf daraus abgeleiteten Kompetenzrastern werden alle Materialien in den drei Niveaustufen Mindest-, Regel- und Expertenstandard für die jeweiligen Klassenstufen erstellt. Für die Lernpartner in Wutöschingen stehen die Materialien aufgeteilt nach Themenfeld in den Lernateliers bereit. Dort bedienen sich die Lernpartner, wenn sie eines der Lernpakete bearbeiten wollen.

Tablets für alle Lernpartner

Auf den ersten Blick scheinen einige der Ordner allerdings ziemlich leer zu sein. Lediglich ein einzelnes Blatt befindet sich dort. „Wenn ich so ein Thema bearbeiten möchte, scanne ich einfach den QR-Code“, erklärt Angelina. Sie ist in der 5a und erst seit diesem Jahr an der Alemannenschule. Nachdem sie ihr Tablet hervorgeholt hat, öffnet sie die entsprechende App und scannt den QR-Code. Jetzt kann Angelina das Material abrufen. Auch enthalten sind Lern-Apps, Quizze und Videos. Gleich auf der ersten Seite sind die Ziele aufgelistet, die Angelina erfüllen sollte, um den Gelingensnachweis bestehen zu können. Sie selbst hakt die Ziele ab, um einen Überblick über ihren Lernstand zu behalten. „Die Tablets sind geleast und kosten 12 Euro im Monat. Darin sind eine Versicherung, Updates, Software und vieles mehr enthalten“, erklärt Schulleiter Stefan Ruppaner. „Alle drei Jahre werden die Geräte ausgetauscht und die Lernpartner erhalten ein komplett neues Gerät. Wir haben übrigens keine Beschränkungen eingerichtet. Jedes Kind kann Apps und Spiele installieren.“ Davon möchte Angelina aber gar nichts wissen: „Ich habe keine Spiele installiert. Nur ANTON, da kann ich Quizze machen und mir Punkte für kleine Spiele verdienen, die ich dann spielen kann.“

Die Tablets sind fest im Lernkonzept der Alemannenschule integriert. Die Lernenden haben sie immer dabei. An vielen Stellen im Schulhaus sitzen, liegen und stehen sie, bearbeiten Aufgaben, gucken Videos oder schreiben Nachrichten auf DiLer. Und wenn sie ein Arbeitsergebnis vorstellen möchten, verbinden sie sich über WLAN mit dem Smartboard, auf das der Inhalt des Tablets übertragen wird. Auch die Lernbegleiter nutzen ihre Laptops und Tablets, um über Beamer und Smartboards Input zu geben. In bestimmten Inputräumen geben sie kurze Impulse und verteilen Aufgaben. An die Inputräume schließen die Marktplätze an. In diesen kooperativen Arbeitsbereichen können die Lernpartner dann in Gruppen oder einzeln ihre Aufgaben bearbeiten. Möchte eine der Gruppen in Ruhe arbeiten, ziehen sie einfach einen der Vorhänge zu, dadurch sind die Räume vielfältig nutzbar und schnell anzupassen. Insgesamt verfügt die Schule über vier solcher Marktplätze.

Die Arbeitsweise der Lernpartner ist auch abhängig von ihrem Status. Alle Lernpartner beginnen auf dem Niveau des Neustarters. Abhängig vom persönlichen Verhalten können die Lernpartner aufsteigen und sich zusätzliche Rechte verdienen. Keine Rolle spielen dabei die schulischen Leistungen. Während ein Neustarter eng von seinen Lernbegleitern geführt wird, haben Lernprofis sehr viele Freiheiten. So können sie wählen, wo sie auf dem Schulgelände lernen wollen und können nach Absprache sogar ins Homeoffice gehen. Mit jeder Stufe, die die Lernpartner im Graduierungskonzept erklimmen, kommen aber ebenso Pflichten hinzu, durch die die Lernpartner Verantwortung für die Schulgemeinschaft übernehmen müssen.

Exkursionsteilnehmer sind beeindruckt

Am Ende sind die Teilnehmenden der Exkursion von „LiGa – Lernen im Ganztag“ beeindruckt, beseelt und inspiriert. „Ich hatte ja schon so einiges gehört, aber dass es tatsächlich funktioniert, beeindruckt mich jetzt doch“, fasst eine Teilnehmerin ihre Eindrücke zusammen. Ein anderer sagt anerkennend: „Klasse, wie die drei Ansprechpartner der Schule auf jedes ‚Ja, aber …‘ eine befriedigende Antwort gegeben haben.“

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